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Grundzüge einer allgemeinen Theorie der linearen Integralgleichungen. Sechste Mitteilung. (German) JFM 41.0378.01

Durch eine Reihe mannigfaltiger Anwendungen schließt Hilbert in dieser sechsten Mitteilung die Serie seiner Noten zur Theorie der Integralgleichungen ab. Er überträgt zuerst (§17) seine Behandlung der partiellen Differentialgleichungen zweiter Ordnung vom elliptischen Typus aus der zweiten Mitteilung (Zurückführung auf eine Integralgleichung zweiter Art mittels der Greenschen Funktion) auf Systeme simultaner partieller Differentialgleichungen erster Ordnung vom elliptischen Typus. Er entwickelt sodann ein neues Prinzip der Zurückführung von Differentialgleichungen auf Integralgleichungen zweiter Art, das er als “Methode der Parametrix” bezeichnet. Der Wert der Methode seiner zweiten Mitteilung lag nicht so sehr in der Leistung der Integration der Differentialgleichung selbst als in anderen Dingen. Handelte es sich z. B. um die Schwingungsgleichung \(\Delta u + k^2 u = 0\), so war die Voraussetzung für ihre Reduktion auf eine Integralgleichung die Kenntnis der Greeenschen Funktion, d. h. im wesentlichen die Beherrschung der Gleichung im Falle \(k^2 = 0\); was die Integralgleichungstheorie leistete, war also die Zurückführung des Falles eines beliebigen \(k^2\) auf den Fall \(k = 0\) und vor allem die über die Frage der bloßen Integration hinausgehende Theorie der Eigenwerte, Eigenfunktionen und der Entwickelungen nach diesen. Die Integration von \(\Delta u=0\) aber, d. h. die Lösung der Randwertaufgaben der Potentialtheorie, war, in dem einfachen angeführten Beispiele, die Voraussetzung für alles weitere. Hilbert zeigt nun, daß man durch eine Methode, die mit der eben erwähnten und ganz anderes bezweckenden Methode der zweiten Mitteilung gewisse Berührungspunkte hat, die Zurückführung der partiellen Differentialgleichung (vom elliptischen Typus) selbst – also in dem angeführten Beispiel die von \(\Delta u = 0\) selbst – auf eine Integralgleichung zweiter Art leisten kann. Diese Methode bedient sich einer Funktion, die Hilbert die “Parametrix” der Differentialgleichung nennt, und die mit der Greenschen Funktion alle Eigenschaften gemein hat (Unstetigkeit, Randbedingung, Symmetrieeigenschaft) bis auf die eine schwerwiegendste, der Differentialgleichung zu genügen. Die Schlüsse, die in der zweiten Mitteilung den Übergang von der Differentialgleichung \(D (u) + \lambda u = 0\) zur Integralgleichung mit der Greenschen Funktion als Kern bewirken (Anwendung der Greenschen Formel usw.), machen in der Tat von dieser lästigsten Eigenschaft der Greenschen Funktion keinen Gebrauch; sie dienen hier dazu, um die Differentialgleichung \(D (u) = 0\) selbst auf eine Integralgleichung zurückzuführen, deren Kern aber nicht die Parametrix \(p\) selbst ist, sondern \(D (p)\), bzw. \(D' (p)\), wenn \(D\) sich nicht selbst adjungiert und \(D'\) der adjungierte Differentialausdruck ist. Es gelingt, aus den Fredholmschen Sätzen abzuleiten, daß \(D (u) = f\) bei stetigem \(f\) stets eindeutig und stetig lösbar ist, es sei denn, daß \(D (u) = 0\) eine nicht identisch verschwindende stetige Lösung hat; daß in desem Falle auch \(D' (u) = 0\) in demselben Sinne lösbar ist, daß beide homogenen Probleme die gleiche endliche Anzahl linear unabhängiger Lösungen haben, und daß endlich \(D (u) = f\) dann und nur dann lösbar ist, wenn \(\int f \psi ds = 0\), wo \(\psi\) alle Lösungen von \(D' (u) = 0\) durchläuft.
Die ganze Theorie wird an der Hand einer Randbedingung entwickelt, die nicht den geläufigen Typus hat, für den sie natürlich auch anwendbar ist. Vielmehr wird die variable Stelle \(s\) auf der Kugel ausgebreitet, so daß gar kein Rand auftritt und an Stelle der Randbedingung von der Lösung einfach gefordert wird, daß sie überall zweimal stetig differenzierbar,sein soll. Während die übrigen Entwicklungen von der Art der Randbedingungen nicht sehr abhängen, wird natürlich die Konstruktion der Parametrix stärker davon beeinflußt; sie wird für die eben geschilderten Differentialausdrücke auf der Kugel explizit durchgeführt.
Auf Grund dieser Entwicklungen kann speziell auch die Greensche Funktion von \(D (u) = 0\) konstruiert und infolgedessen die Eigenwerttheorie von \(D (u) + \lambda u = 0\) auf der Kugel sowie die Entwicklung willkürlicher Funktionen auf der Kugel nach den Eigenfunktionen eines solchen sich selbst adjungierten Differentialausdrucks durchgeführt werden, genau nach der Methode der zweiten Mitteilung.
Die Wahl der Vollkugel als Integrationsgebiet hat Hilbert wesentlich deshalb getroffen, weil er die eben geschilderte Theorie zu einer neuen Begründung der Minkowskischen Theorie von Volumen und Oberfläche verwendet. Minkowski hatte (Math. Ann. 57; F. d. M. 34, 649 f., 1903, JFM 34.0649.01) den Satz, daß bei gegebener Oberfläche unter allen Flächen die Kugel das größte Volumen hat, bewiesen, indem er einen neuen Begriff, das “gemischte Volumen \(V_{123}\) dreier Körper”, einführte, der sowohl den Begriff der Oberfläche, als auch den des Volumens als Spezialfall enthielt. Die fundamentale Ungleichung \(V^2_{112} \geqq V_{111}V_{122}\), die die Minimaleigenschaft der Kugel in sich begreift, erscheint bei Minkowski als die Folge einer kubischen Ungleichung. Hilbert erhält nun diese quadratische Ungleichung unmittelbar: er betrachtet die Lagrangesche Gleichung des Variationsproblems, von dem die Minkowskische Theorie handelt; das ist die elliptische partielle Differentialgleichung auf der Kugel, auf die er seine Theorie der Parametrix anwendet, indem er außerdem noch zeigt, daß sie \(\lambda = - 1\) zum einfachen, \(\lambda = 0\) zum dreifachen Eigenwert hat; die Positivität des fünftkleinsten Eigenwerts liefert die Minkowskische Ungleichung.
Eine ganz andere Anwendung der Eigenwerttheorie auf die Theorie der automorphen Funktionen liefert den Satz: Es gibt unendlichviele reelle Werte \(\lambda\), für die der Quotient zweier Lösungen der linearen Differentialgleichung \[ \frac{d}{dx} \left[ (x-a)(x-b)(x-c)\,\frac{dy}{dx} \right] +(x+\lambda )y=0 \] beim Umlauf der Variable \(x\) um die singulären Stellen \(a, b, c, \infty\) Substitutionen mit reellen Koeffizienten erfährt.
Endlich wird die Theorie der polaren Integralgleichungen (s. fünfte Mitt. S. 474) zu einer Anwendung auf das “Kleinsche Oszillationstheorem” aus der Theorie der linearen Differentialgleichungen benutzt: Treten in den Differentialgleichungen \[ \begin{matrix} \frac{d}{dx} \left( p\,\frac{dy}{dx} \right) +(\lambda a+\mu b)y=0, \quad& (p(x) \geqq 0,\;a(x)>0\;\text{für}\;&x_1 \leqq x \leqq x_2), \\ \frac{d}{d\xi} \left( \pi\,\frac{d\eta}{d\xi} \right) +(\lambda \alpha +\mu \beta )\eta =0, \quad&(\pi (\xi ) > 0,\;\alpha (\xi )>0,\;&\xi_1 \leqq \xi \leqq \xi_2), \end{matrix} \] die Parameter \(\lambda ,\mu\) nicht bloß in der Verbindung \(\lambda +C\mu\) auf (\(C =\) konstans), so existieren unendlichviele Paare von Werten \(\lambda ,\mu\), für welche das Differentialgleichungssystem ein Lösungssystem \(y_h (x), \eta_h (\xi )\) besitzt, derart, daß \(y_h(x)\) an den Enden und nicht überall im Inneren des Intervalles \(x_1,x_2\) und \(\eta_h(\xi )\) an den Enden und nicht überall im Inneren des Intervalles \(\xi_1,\xi_2\) verschwindet. Ein Entwicklungsgesetz wird hinzugefügt.

Citations:

JFM 34.0649.01
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