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Über die Grundlagen der Mechanik. (German) JFM 39.0739.01

Der Verf. unterscheidet in den bisherigen Darstellungen des Aufbaues der Mechanik drei Wege: die Punktmechanik, die mit dem Massenpunkt als Grundelement beginnt; die mit der Betrachtung des starren Körpers anhebende Entwickelung und die mit dem Volumenelemente anfangende Darstellung. Dieser letzte, am wenigsten begangene Weg führt nach seiner Ansicht allein zu einer allgemeinen Mechanik, die nachher sowohl bei Zugrundelegung der Kontinuitätshypothese, als auch bei atomistischen Vorstellungen für starre Körper wie für feste oder flüssige in gleicher Weise anwendbar ist. Die Wichtigkeit der vom Verf. geltend gemachten Gesichtspunkte veranlaßt uns, die Hauptsachen nach den Andeutungen der Einleitung wörtlich wiederzugeben.
“Aus der wohl allein möglichen Fassung der beiden ersten Newtonschen Grundgesetze mit Einschluß des Kräfteparallelogramms (Axiom Vc) folgt bereits das dritte Newtonsche Gesetz, das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung für die inneren Spannungen. Dagegen genügt sie trotzdem nicht zum vollen Aufbau der Mechanik, d. h. zur Gewinnung des Flächensatzes; man braucht dazu noch Axiom VII, das im wesentlichen die Symmetrie der Spannungsdyade ausspricht. Die Unabhängigkeit dieses Axioms hatte schon Botzmann erkannt; die Methoden, ein Beispiel einer Mechanik zu konstruieren, die Axiom VII und daher auch den Momentensatz in der allgemeinen Form nicht kennt, enthalten die Ideen W. Thomsons.
Diese allgemeine Grundlegung der Mechanik ist nicht in sich abgeschlossen; die Mechanik ist – bei dieser Auffassung – ein Zweig der Physik, der erste mit den anderen zusammen ein Ganzes bildet. Sie enthält eben die Aussagen über Bewegung und Kräfte, die einen für alle Systeme gemeinsamen Charakter tragen; das einzelne System wird dann durch die Eigenschaften der Spannungsdyade charakterisiert. Hier sprechen als Ursachen alle physikalischen und chemischen Vorgänge mit; daher kann auch an einen Beweis der Widerspruchslosigkeit hier nicht eher gedacht werden, als bis Physik und Chemie abgeschlossene, einer aprioristischen Untersuchung fähige Disziplinen geworden sind. Für einzelne Systeme wird im Kapitel 1, \(\S\) 4 eine Charakterisierung gegeben; besonders sei auf ein wohl neues Objekt der Mechanik hingewisen, ein System, das als Bewegungen die zehngliedrige Gruppe der konformen Transformationen gestattet.
Dagegen gelingt der Beweis der Widerspruchslosigkeit für die im Kapitel 2 behandelten starren Systeme, wenigstens bei gewisser Beschränkung des Kraftfeldes, bis auf zwei Punkte, die auch wirklich einen Widerspruch für die Mechanik starrer Körper darstellen, nämlich die Möglichkeit unendlicher Reaktionskräfte. Diese in der Mechanik starrer Körper behandeln zu wollen, scheint nicht recht sachgemäß.
Erkenntnistheoretische Erörterungen habe ich grundsätzlich ausgeschlossen: ich wollte vor allem einmal eine nüchterne Darstellung der notwendigen Axiome geben, ihrer Unabhängigkeit und Widerspruchslosigkeit, soweit mit dies möglich war.
Ich habe die Begrife Kraft und Masse wieder in ihre alten Rechte eingesetzt. Wir haben diese Dinge unzweifelhaft nötig; ohne sie gibt es keine Mechanik. Kraft ist mehr Masse mal Beschleunigung, was schon daraus erhellt, daß die Grundgleichung stets lautet: Masse mal Beschleunigung ist gleich der Summe der Kräfte. Warum also nicht die guten alten Worte brauchen? Die Begriffe selbst sind nicht unklar; nur die Bücher drücken sich über die oft recht metaphysisch und dunkel aus. Und was verschlägt es, wenn die Brauchbarkeit der Begriffe merkwürdig ist – vielleicht ein wenig rätselhaft? Wenn die Grundgesetze der Mechanik tiefer sind, als mancher es bequem findet, und sich mit ein paar eleganten Worten, wie Konvention und Ökonomie des Denkens, Abstraktion und Idealisierung, abtun lassen?
Und dann noch ein Wort über den absoluten Raum und die absolute Zeit. Ich brauche – und behaupte daher – ihre logische Existenz, gebe aber den Empiristen und Relativisten darin recht, daß man sie empirisch wohl nie wird feststellen können. Ohne sie verliert aber die Mechanik als logische Wissenschaft jede Bedeutung. Jeder Streit ist hier müßig. Hätten die dogmatischen Relativisten bedacht, daß das Wort “es gibt” mindestens vier Bedeutungen zuläßt, eine logische, eine empirische, eine metaphysische und eine anschauliche (ästhetische im Sinne Kants), so hätte man Newton und Euler sehr viel besser verstanden. Ich behaupte als nur die logische Existenz des absoluten Raumes und der absoluten Zeit.”
Mögen diese mitgeteilten Proben der Denk- und Schreibweise des Verf. viele veranlassen, die bedeutsame Schrift zu lesen. Man wird begrifen, daß ein Auszug nur ein unklares Bild hätte geben können.

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References:

[1] G. Jaumann, Die Grundlagen der Bewegungslehre, Leipzig 1905. · JFM 36.0742.03
[2] L. Boltzmann, Popul. wiss. Schriften. Die Grundprinzipien und Grundgleichungen der Mechanik S. 298.
[3] W. Thomson, Papers III. Art. C und CII.
[4] Der vorstehende Beweis findet sich bereits wesentlich bei Voigt, Kompendium der Physik, Bd. I.
[5] Hamel, Die virt. Verschieb. in d. Mechanik. Math. Ann. Bd. 59.
[6] Hamel, Die Lagr.-Eul. Gleich. d. Mechanik. Z. Math. u. Phys. Bd. 50.
[7] Siehe z. B. die Darstellung bei Heun, Lehrb. d. Mech., I. B. Kinematik, S. 246 ff.
[8] Siehe z. B. Appell, Les mouvements e roulement en Dynamique (Scientia), vgl. auch den Zusatz von Hadamard.
[9] Ich bemerke nachträglich, daß sich der vorstehende Beweis wesentlich bereits in einer Arbeit von C. Neumann, Sächsische Berichte 1887, findet.
[10] Siehe Hamel, Die Lagr.-Eulerschen Gleichungen d. Mech. Z. f. M. u. Ph. Bd. 50, § 5 und 7. Hamel, Über die virtuellen Verschieb. i. d. Mechanik. Math. Ann. Bd. 59, § 1 und 2 und Schluß von § 3. Die L.-E. Gl. wurden zuerst von Volterra 1898, Woronetz 1901 und Boltzmann 1902, für einen speziellen Fall auch von Poincaré (C. R. 1901) abgeleitet.
[11] Die verschiedenen Beweisversuche D’Alemberts und anderer Autoren (vgl. Voß, Encykl. IV1) sind also falsch. (Siehe Einleitung.).
[12] Sätze, die sich auf allgemeinere Systeme beziehen und die Rolle gewisser Singularitäten dartun, siehe in Painlevés Stockholmer Vorlesungen (1895) Seite 541 ff. Das von Painlevé auf S. 574 gegebene Beispiel widerspricht nicht unserem obigen Satze, weil bei dem Beispiel weder |U| unterhalb einer endlichen Grenze bleibt, noch auchE oberhalb einer solchen, wenn dieq es tun.
[13] Painlevé, C. R. t. 121, 140 und 141.
[14] A. Mayer, Sächsische Berichte 1899. E. Zermelo, Göttinger Nachrichten 1899.
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