×

Mathematische Werke. Herausgegeben unter Mitwirkung einer von der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften eingesetzten Kommission. Vierter Band. Vorlesungen über die Theorie der Abelschen Transzendenten. Bearbeitet von G. Hettner und J. Knoblauch. (German) JFM 33.0031.01

Berlin: Mayer \(\&\) Müller. XIV u. 631 S. \(4^{\circ}\) (1902).
Über die Entstehung dieses stattlichen Bandes berichten wir mit den Worten er Bearbeiter:
“Schon im Jahre 1889 hatte Weierstraß den Wunsch geäußert, die von ihm an der hiesigen Universität gehaltenen Vorlesungen über Abelsche Transzendenten durch und herausgeben zu lassen. Und zwar sollte sich die Veröffentlichung an die Vorlesungen vom Wintersemester 1875/76 und Sommersemester 1876 auschließen, weil sich diese durch die Einheitlichkeit ihrer Durchführung ausgezeichnet hatten; die Vorlesungen früherer oder späterer Jahre sollten nur in geringerem Umfange zur Ergänzung herangezogen werden.
Ein großer Teil des Manuskript ist damals von uns fertig gestellt worden; allein der Druck wurde verschoben, weil Weierstraß sich inzwischen zur Herausgabe seiner Mathematischen Werke entschlossen hatte. Von diesem enthalten die drei ersten Bände die von ihm verfaßten Abhandlungen, die folgenden Bände die Vorlesungen, soweit sie sur Veröffentlichung bestimmt sind. Daßdie über Abelsche Transzendenten zuerst erscheinen, hat seinen Grund in dem oben Gesagte; voraussichtlich werden zunächst die über elliptische Funktionen folgen.
Obgleich die im vorliegenden Bande enthaltenen Vorlesungen von Weierstraß stets unter dem Titel “Theorie der Abelschen Funktionen” angekündigt worden sind, haben wir sie soch mit seiner Zustimmung als solche über Abelsche Transzendenten bezeichnet, weil die Theorie der Abelschen Funktionen im eigentlichen Sinne darin nur kurz skizziert ist, während die grundlegenden algebraischen Untersuchungen und die Theorie der Abelschen Integrale genau durchgeführt sind.
Der Veröffentlichung liegen die Ausarbeitungen zugrunde, die wir seinerzeit nach den Vorlesungen der beiden vorher erwähnten Semester angefertigt haben. Nur für das 26., 28. und die erste Hälfte des 29. Kapitels konnten wir uns auf ein Manuskript stützen, das Weierstraß früher bei seinen Zuhörern in Umlauf gesetzt hatte. Für die zweite Hälfte des 29., das 30. und das 34. Kapitel sind die Ausarbeitungen von G. Valentin und C. Weltzien aus dem Wintersemester 1873/74 und die beiden ersten Paragraphen des Buches von F. Schottky “Abrißeiner Theorie der Abelschen Funktionen” (Leipzig, 1880) mit herangezogen worden.
Weierstraß selbst hat von dem Inhalt dieses Bandes nur zu einem kleinen Teile Kenntnis genommen; als er am 19. Februar 1897 starb, war der Druck erst bis zum achtzehnten Bogen vorgeschritten.”
Der Inhalt gliedert sich in drei große Abschnitte: I. Algebraische Grundlage der Theorie (S. 1-246). II. Die Abelschen Integrale (S. 247 bis 438). III. Die Abelschen Funktionen (S. 439-624). – Voran geht eine Einleitung (S. 1-10); ein alphabetisches Inhaltsverzeichnis (S. 625 bis 631) macht den Beschluß. Da es unmöglich ist, in einer Anzeige von wenigen Seiten eine Vorstellung von dem Entwickelungsgange der Gedanken zu geben, begnügen wir uns damit, auf die “Einleitung” hinzuweisen, in der eine Übersicht des Inhaltes enthalten ist. Aus dieser Einleitung möge aber der Schlußhier Platz finden, weil Weierstraß daselbst zur Geschichte der Entwickelung das Wort nimmt.
“Bevor die Arbeiten Rosenhains und Göpels bekannt wurden, hatte auch ich das Problem in Angriff genommen. Wie wir sehen, ist jede rationale symmetrische Funktion der \(\varrho\) Wertepaare \((x_1y_1), (x_2y_2), \dots, (x_{\varrho}y_{\varrho})\), wenn zwischen diesen und den \(\varrho\) Variabeln \(u_1, u_2, \dots, u_{\varrho}\) die \(\varrho\) vorher aufgestellten Differentialgleichungen bestehen, eine eindeutige Funktion der Veränderlichen \(u_1, u_2, \dots, u_{\varrho}\), und jede solche Funktion nennen wir eine Abelsche Funktion. Doch kann der Fall eintreten, daßauch eine algebraische symmtrische Funktion dieser \(\varrho\) Wertepaare \((x_1y_1), (x_2y_2), \dots, (x_{\varrho}y_{\varrho})\), eine eindeutige Funktion eine Abelsche Funktion genannt. Es gelang mir nun, die Abelschen Funktionen als Quotienten zweier beständig konvergenten Potenzreihen darzustellen. Die Zähler und Nenner sind ganze rationale Funktionen von Thetafunktionen von \(\varrho\) Veränderlichen, und so wurde ich zu den Thetafunktionen beliebig vieler Veränderlichen geführt, deren Existenz mir vorher unbekannt war.
Abel hat jedoch den Satz, welchen wir oben als Abelsches Theorem bezeichneten, auf die Integrale der aus einer beliebigen algebraischen Irrationalität entspringenden algebraischen Funktionen ausgedehnt. Auch an diese Erweiterung des Abelschen Theorems knüpft sich ein Umkehrungsproblem an, und es entstand wieder die Aufgabe, in diesem allgemeineren Falle symmetrische Funktionen der \(\varrho\) Wertepaare \((x_{\alpha}y_{\alpha})\) als eindeutige Funktionen von \(\varrho\) Veränderlichen \(u_1, u_2, \dots, u_{\varrho}\) darzustellen.
Eine direkte Lösung dieses Problems habe ich bereits im Sommer 1857 in einer ausführlichen Abhandlung der Berliner Akademie vorgelegt. Das schon der Druckerei übergebene Manuskript wurde aber von mir wieder zurückgezogen, weil wenige Wochen später Riemann eine Arbeit über dasselbe Problem veröffentliche, welche auf ganz anderen Grundlagen als die meinige beruhte und nicht ohne weiteres erkennen ließ, daßsie in ihren Resultaten mit der meinigen vollständig übereinstimme. Der Nachweis hierfür erforderte einige Untersuchungen hauptsächlich algebraischer Natur, deren Durchführung mir nicht ganz leicht wurde und viel Zeit in Anspruch nahm. Nachdem aber diese Schwierigkeit beseitigt war, schien mit eine durchgreifende Umarbeitung meiner Abhandlung erforderlich. Andere Arbeiten, sowie Gründe, deren Besprechung gegenwärtig nicht mehr von Interesse ist, bewirkten dann, daßich erst gegen Ende des Jahres 1869 der Lösung des allgemeinen Umkehrungsproblems diejenige Form geben konnte, in der ich sie von da an in meinen Vorlesungen vorgetragen habe.
Die Schwierigkeiten, denen man in der Theorie der Abelschen Transzendenten begegnet ist, rühren teilweise daher, daßman sofort auf die Theorie der Integrale einging, ohne zu bedenken, daßman die Eigenschaften der zu integrirenden algebraischen Funktionen noch nicht genügend erforscht hatte. Bei den hyperelliptischen Integralen ließsich das Meiste mittels wirklicher Durchführung der Rechnungen erledigen, bei beliebigen Abelschen Integralen ist dies jedoch unmöglich. Es mußdaher der Theorie der Abelschen Integrale eine ausführliche Untersuchung der algebraischen Funktionen vorangeschickt werden.”
Bisher war die Weierstraßsche Theorie allgemein nur durch das Referat von Brill und Noether im Jahresbericht III der Deutschen Mathematiker-Vereinigung (1892/93) bekannt geworden. DaßHettner und Knoblauch große Schwierigkeiten zu überwinden hatten, bis sie das Werk abschließen konnten, ist aus der langen Dauer des Druckes zu erkennen. Jetzt, wo das stolze Gebäude fertig ist, kann sich jeder seiner Festigkeit und seiner Schönheit freuen und der selbstlosen Arbeit der pietätvollen beiden Schüler des großen Meisters warmen Dank aussprechen.