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Grundlagen der Geometrie. (German) JFM 30.0424.01

Leipzig: B. G. Teubner. 92 S. gr. \(8^\circ\). (Festschrift zur Feier der Enthüllung des Gauss-Weber-Denkmals in Göttingen.) (1899).
Diese Arbeit sollte jeder lesen, der sich für die Grundlagen der Geometrie interessirt; denn auf viele der hierher gehörigen Fragen giebt sie zum ersten Male eine befriedigende, ja endgültige Antwort. Eine Ergänzung zu den manchmal nur knappen Ausführungen der Festschrift bietet eine von Hilbert im Winter 1898/99 gehaltene Vorlesung: “Elemente der euklidischen Geometrie”, die aber nur in einer beschränkten Anzahl von Exemplaren autographirt und daher leider nicht allgemein zugänglich ist. In Kap. I der Festschrift giebt Hilbert zunächst eine Aufzählung der Axiome, die er zum Aufbau der Geometrie benutzt. Er unterscheidet fünf Gruppen: 1. Axiome der Verknüpfung, die die Eigenschaften der Geraden und der Ebene aussprechen. 2. Axiome der Anordnung, die den Begriff “zwischen” definiren. 3. Das euklidische Parallelenaxiom. 4. Die Axiome der Congruenz. 5. Das archimedische Axiom, das die Einführung der Stetigkeit in die Geometrie ermöglicht. Zu bemerken ist, dass bei den Axiomen Nr. 1 vorausgesetzt wird, dass jede Gerade, die zwei Punkte mit einer Ebene gemein hat, ganz in der Ebene liegt; also die Frage, wie man die Definition der Ebene auf die der Geraden zurückführen kann, bleibt ausser Betracht.
In Kap. II beweist Hilbert die Widerspruchsfreiheit seiner Axiome, indem er auf arithmetischem Wege eine Mannigfaltigkeit construirt, die den Axiomen genügt, sodann führt er bei einigen Axiomen den Beweis, dass sie von den übrigen unabhängig sind, nämlich beim Parallelenaxiome, den Congruenzaxiomen und dem archimedischen. Die Methode, deren er sich dabei bedient, und die er auch in den autographirten Vorlesungen benutzt, wo die Untersuchung über die Unabhängigkeit der Axiome vollständiger durchgeführt wird, besteht in der Herstellung von Mannigfaltigkeiten, die alle Axiome erfüllen ausser einem oder mehreren. Noch niemals ist die Construction solcher Mannigfaltigkeiten so systematisch angewandt worden, und man muss darin eines der fruchtbarsten Hülfsmittel zur Erledigung derartiger Fragen erblicken. In Kap. III wird nach einem einleitenden Paragraphen, der von den Eigenschaften complexer Zahlensysteme handelt, der Pascal’sche Satz für das Geradenpaar bewiesen, und zwar auf Grund aller Axiome, soweit sie sich auf die Ebene beziehen, mit alleiniger Ausnahme des archimedischen. Auf dem Pascal’schen Satz wird dann eine Streckenrechnung aufgebaut, die eine vom archimedischen Axiome unabhängige Begründung der euklidischen Proportionenlehre und der Aehnlichkeit ermöglicht; zugleich gelangt man so zu einer analytischen Geometrie, die dieses Axioms nicht bedarf. Kap. IV entwickelt unter denselben Voraussetzungen die Lehre von den Flächeninhalten in der Ebene.
Kap. V ist dem Satze des Desargues gewidmet. Es stellt sich heraus, dass dieser aus den Axiomen der ebenen Geometrie allein nur dann bewiesen werden kann, wenn man alle Congruenzaxiome mitnimmt; denn es lässt sich eine Geometrie construiren, die alle ebenen Axiome (auch das archimedische) ausser denen der Congruenz erfüllt, in der der Satz des Desargues nicht gilt, die sich daher auch nicht als Teil einer räumlichen Geometrie auffassen lässt. Nunmehr setzt Verf. alle ebenen Axiome mit Ausnahme derjenigen der Congruenz und des archimedischen voraus und überdies den Desargues’schen Satz. Unter diesen Annahmen baut er eine Streckenrechnung auf und zeigt, dass der Inbegriff aller so definirten Strecken der Ebene ein complexes Zahlensystem bildet, für das alle gewöhnlichen Rechnungsregeln, nicht aber das commutative Gesetz der Multiplication und auch nicht das archimedische Axiom gelten. Mit Hülfe dieses Zahlensystems kann eine räumliche Geometrie hergestellt werden, in der die ursprüngliche ebene Geometrie als Teil enthalten ist. “Der Desargues’sche Satz kennzeichnet sich so gewissermassen für die ebene Geometrie als das Resultat der Elimination der räumlichen Axiome.” Zu wesentlich anderen Ergebnissen führt in Kap. VI die Untersuchung des Pascal’schen Satzes. Dieser kann bewiesen werden, wenn man alle Axiome ausser den Congruenzaxiomen zulässt; aber sein Beweis wird unmöglich, wenn man auch noch das archimedische Axiom weglässt. Es lässt sich mit Hülfe des in Kap. V eingeführten Zahlensystems eine räumliche Geometrie construiren, in der alle Axiome ausser den Congruenzaxiomen und dem archimedischen gültig sind, in der aber der Pascal’sche Satz für das Geradenpaar nicht besteht. Der innere Grund hierfür liegt darin, dass ein Zahlensystem der im Eingang von Kap. III definirten Art, das dem archimedischen Axiome genügt, notwendig commutative Multiplication besitzt, während beim Wegfall des archimedischen Axioms die Multiplication nicht mehr commutativ zu sein braucht. Erfüllt eine ebene Geometrie alle Axiome ohne Ausnahme, so lässt sich jeder in ihr gültige Schnittpunktsatz durch Construction geeigneter Hülfsgeraden und Hülfspunkte als eine Combination der Sätze von Desargues und Pascal darstellen; der Beweis des Satzes lässt sich also ohne Benutzung der Congruenzaxiome führen.
Kap. VII endlich behandelt die geometrischen Constructionen, die durch Ziehen von Geraden und durch Abtragen von Strecken lösbar sind. Nicht jede durch Zirkel und Lineal lösbare Aufgabe ist auch auf diesem Wege (wie Verf. sich ausdrückt: durch Lineal und Streckenübertrager) lösbar; Hilbert bestimmt aber die notwendigen und hinreichenden Bedingungen, unter denen sie es ist, und zwar auf Grund gewisser merkwürdiger Sätze über die Darstellung ganzer rationaler Functionen von \(x\) durch einen Quotienten zweier Summen von Quadraten.